Literatur auf dem Prüfstand

Dürfen – oder müssen – wir Texte verändern?

Montag, 18. September 2023 um 19.30 Uhr in der Kulturfabrik Kampnagel (K 1)

Jarrestraße 20 in 22303 Hamburg, Tel. 040/270 949-0

 

Vom Theaterstück bis zum Kinderbuch werden Texte neu gelesen und aus heutiger Perspektive bewertet. Im weiten Feld der Literatur spielen Wörter die wichtigste Rolle, deshalb wird nun leidenschaftlich diskutiert, wie mit - vermeintlich oder tatsächlich - diskriminierender Sprache und ebensolchen Inhalten umgegangen werden soll. Können sie weiterhin Teil des literarischen Kanons bleiben? Gibt es tatsächlich eine neue „Sprachpolizei“, die Wörter tilgt? Wird das Urheberrecht verletzt – oder erlebt unsere Gesellschaft gerade eine dringend notwendige Sensibilisierung im Umgang mit Sprache und Wortwahl? Das Kulturforum Hamburg nimmt den Dialog auf. 

 

Es diskutierten:

Verena Carl, Journalistin und Autorin

Siri Keil, Pressesprecherin der Kulturfabrik Kampnagel

Prof. Dr. Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg

Jayrôme Robinet, Schriftsteller, Vorstandsmitglied des PEN Berlin

Dr. Regula Venske, Schriftstellerin, Generalsekretärin von PEN International

 

Moderation: Dr. Christoph Bungartz (Kulturredakteur)

 

Fotos: Gerhard Lein, Begrüßung durch Cornelie Sonntag-Wolgast (Vorsitzende KuFo), Dr. Christoph Bungartz , Siri Keil, Verena Carl, Dr. Regula Venske, Prof. Dr. Rainer Moritz und Jayrôme Robinet, vollbesetzter Saal auf Kampnagel, Wortmeldung aus dem Publikum

 

 „Literatur auf dem Prüfstand“ - unter diesem Titel lud das Kulturforum zur Podiumsdiskussion auf Kampnagel. Zu Gast im vollbesetzten Saal waren Verena Carl, Prof. Dr. Rainer Moritz, Jayrôme Robinet, Dr. Regula Venske, und statt der angekündigten Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard sprang die Pressesprecherin des Hauses ein, Siri Keil.

 

Wie behandelt man diskriminierende Sprache und ebensolchen Inhalte? Dürfen und sollen historische Texte geändert werden? Wie geht man mit Stellen und Wörtern um, die heute nicht mehr vertretbar sind oder zumindest auf Kritik stoßen oder stoßen könnten? Das sind die Fragen, denen Autoren und Verlage ausgesetzt sind und die auch die Leser und Leserinnen beschäftigen.

Agenturen bieten mittlerweile ein „Sensitivity Reading“ an, bei dem sie Bücher auf stereotype, diskriminierende oder stigmatisierende Darstellungen überprüfen.

Was denn dieses Canceling überhaupt sei, fragt eine Dame im Publikum. Erstaunlich, denn die Diskussion läuft seit längerem im Land rauf und runter. Der Moderator des Abends, der Kulturredakteur Dr. Christoph Bungartz fasst noch einmal bildhaft zusammen, dass hierbei der Prozess gemeint ist, in dem etwas vom Sockel gestoßen werde. Dann fragt er seine Gäste nach einem kurzen Stimmungsbarometer: Wer ist denn „dafür“, wer „dagegen“ und für wen „kommt es drauf an“?

 

Rainer Moritz positioniert sich klar dagegen; die Stimmen der anderen Gäste verteilen sich. Sich über einen historischen Text zu stellen, sei anmaßend, so der Leiter des Literaturhauses Hamburg. Regula Venske führt an, dass es das Übersetzen von Texten in die Gegenwart immer schon gegeben habe. Und Siri Keil bringt die Fragwürdigkeit der Machtverhältnisse, die viele ältere Texte transportierten, mit ins Spiel. Verena Carl betont, dass es doch gar nicht um die Sprache gehe, sondern um das, was dahintersteht. Denn auch wenn das N-Wort aus den Büchern gestrichen wurde, bleibe die Geschichte der Pippi Langstrumpf eine kolonialistische Geschichte. Jayrôme Robinet bleibt in der Debatte entspannt, wie er sagt. Er wünscht sich eine größere Bereitschaft unserer Gesellschaft, Texte auszuhalten. Neuübersetzungen ermöglichen eine andere Sprache, doch ursprüngliche Fassungen sollten ko-existieren und nicht verschwinden. Vielleicht könnten ergänzende Vorworte oder Nachworte Klärung verschaffen. Warum hängt man nicht 30 Seiten dran, fragt Siri Keil.

 

Doch welche Texte sind eigentlich gemeint? Thomas Mann oder Proust zu verändern, da stimmt die Runde in großen Teilen überein, das ginge zu weit. „Die Weltliteratur handelt eben davon, dass Menschen schlimme Sachen tun und nicht zivilisiert miteinander sprechen. Verändert man die Sprache, dann verändert man die Charaktere“, sagt Moritz. Das Publikum applaudiert. Es geht hitzig zu, auch wenn nicht stringent an der Frage entlang diskutiert wird, sondern einander umschiffend. Die Begriffe verschwimmen. Man spürt viel Ratlosigkeit und noch mehr Vorsicht im Umgang mit der Thematik.

Irgendwann steht die Frage im Raum, wie viel denn tatsächlich gecancelt wurde. Und ob wir als Gesellschaft zu empfindlich werden. Beantworten lassen sich diese Fragen nicht, und vielleicht ist es wahr, was Moritz meint: „Wir müssen ertragen, dass die Kunst nicht der aufgeklärte Geist ist, auch wenn wir es uns wünschen.“

 

Die zahlreichen Wortmeldungen aus dem Publikum reichen von Polemik bis zu dem Gesuch nach Mitgefühl für diskriminierte Gruppen. Ein Schüler aus der 10. Klasse des Gymnasiums Eppendorf, die anwesend ist, meldet sich zu Wort. „Zensur ist gegen das Grundgesetz“. Dass es um staatliche Zensur geht, erwähnt er nicht. Eine andere Stimme aus dem Publikum fragt, sichtbar betroffen: „Wozu wollen wir die Texte verändern? Den Rassismus werden wir dadurch nicht stoppen.“

Vielleicht nicht direkt, doch der Weg zu einem respektvollen Umgang in einer postmigrantischen Gesellschaft beginnt damit, den anderen ernst zu nehmen in seinen Bedenken. Lasst uns die Diskurse miteinander führen, plädiert auch Jayrôme Robinet. Und vielleicht ist das die Chance, die auch hinter dieser Debatte steckt. Wir müssen sie nur nutzen. (Franziska Herrmann)


Das Kultuforum freut sich über die rege Resonanz auf unsere Veranstaltung. Hier der Bericht einer Schülerin über den Abend!"

 

Am Montag, den 18. Oktober hatte unsere Klasse (10d) die Gelegenheit, bei einer Abendveranstaltung auf Kampnagel dabei zu sein. Die Veranstaltung befasste sich mit dem Thema „Literatur auf dem Prüfstand. Dürfen – oder müssen – wir Texte verändern“ und bildete eine Debatte zu diskriminierender Sprache in deutscher Literatur.

Bereits im Deutschunterricht haben wir uns, zusammen mit Frau Kummerfeldt, intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt und waren auf eine interessante Diskussion gespannt.

 

Die Veranstaltung wurde als Podiumsdiskussion gestaltet, zu der fünf Gäste aus der Literaturszene eingeladen worden sind. Diese fünf verschiedenen Persönlichkeiten lieferten viele unterschiedliche und teils sehr gegensätzliche Meinungen, als es um die Herausforderungen im Umgang mit diskriminierender Sprache und Inhalten in der deutschen Literatur ging.

 

Einerseits betonten einige Teilnehmer die Bedeutung des historischen Kontexts und argumentierten, dass es wichtig sei, die Werke und ihre Sprache in ihrer Schaffenszeit zu betrachten und diese nicht nach modernem Denken und Normen zu beurteilen.

Es hieß, dass historische Texte wertvolle Einblicke in die frühere Kultur und Gesellschaft bieten könnten und es falsch sei, diese zu verändern. Sie waren der Meinung, dass alte Texte mit diskriminierenden Wörtern keinen Rassismus fördern. Um Rassismus und Diskriminierung zu bekämpfen, bedürfe es anderer Maßnahmen. Sie waren skeptisch und argumentierten, dass die Eliminierung einiger Worte und Abschnitte zu einer „Cancel Culture“ führe, die die künstlerische Freiheit einschränke.

 

Auf der anderen Seite gab es Stimmen, die eine Notwendigkeit darin sehen, rassistische, sexistische und andere diskriminierende Begriffe aus Werken zu entfernen. Sprache kann Menschen verletzen, besonders diejenigen, die direkt von Diskriminierung betroffen sind. Sie betonten, dass sich alle Menschen beim Lesen sicher und respektiert fühlen sollten. Eine moderne Gesellschaft, die Diskriminierung gesetzlich verbietet, solle jede Gelegenheit nutzen, Fehler der Vergangenheit anzuerkennen und gegebenenfalls zu korrigieren. Eine Korrektur sei eine Übersetzung in die Gegenwart. 150 Jahre alte Sprache dürfe kritisch hinterfragt werden und Begriffe müssten kontextualisiert werden. Es sei sozialer Fortschritt, die Literatur an heutige Normen anzupassen.

 

Insgesamt war die Diskussion sehr komplex und es wurde deutlich, dass es keine einfachen Antworten gibt. Die unterschiedlichen Meinungen zeigten aber, dass das Bewusstsein für diskriminierende Sprache aller Art wächst.

Die Veranstaltung war für unsere Klasse eine tolle Möglichkeit, verschiedene Standpunkte zu hören und unser vorhandenes Wissen zu erweitern. Es wurde deutlich, wie wichtig es ist, über Sprache und Literatur zu reden, weil sie einen großen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung hat. (Lucia Nilsson)