Lebenswirklichkeiten. Jüdisches Hamburg heute

Montag, 21. September um 19 Uhr

Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-Platz 1, 22087 Hamburg, Tel. 040/22701420

 

NDR Kultur berichtet im Vorfeld über die Veranstaltung in: Schabat Schalom 18. September 2020, ab Minute 12:10 

 

„Lebenswirklichkeiten. Jüdisches Hamburg heute“, unter diesem Motto trafen sich auf Einladung des Kulturforums vier sachkundige Podiumsgäste im coronagerecht hergerichteten  Ernst Deutsch Theater – und fast hundert Besucherinnen und Besucher lauschten der anregenden, von Siri Keil souverän moderierten Gesprächsrunde. Diskussionsteilnehmer Michael Heimann (Vorsitzender Jüdischer Salon am Grindel e.V.) hatte kurzfristig absagen müssen, weil das Gesundheitsamt ihm Quarantäne verordnet hatte.

 

Es diskutierten:

Rabbiner Shlomo Bistritzky

Prof. Dr. Miriam Rürup (Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden)

Dr. Anna von Villiez (Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule)

Lior Oren (Public historian)

Gesprächsleitung: Siri Keil, freie Autorin und Moderatorin

 

Gibt es das überhaupt, das jüdische Hamburg? Rabbiner Shlomo Bistritzky, vor 17 Jahren aus Israel gekommen, erkennt zwar die jahrhundertealte jüdische Tradition in Hamburg, plädiert jedoch dafür, den Blick mehr in die Zukunft zu richten. Lior Oren, der sich selbst als public historien“ bezeichnet, erforscht die Geschichte seiner jüdischen Familie, vermittelt seine Erkenntnisse gern an junge Menschen und stößt vor allem bei jungen Leuten mit Migrationshintergrund auf starkes Interesse – „aber nicht so sehr wegen der jüdischen Schicksale, sondern weil meine Großmutter selbst als Migrantin hierher kam.“ An welchen Orten lässt sich jüdische Geschichte darstellen? Anna von Villiez, Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule im Karolinenviertel, verweist etwa auf die zahlreichen Stolpersteine, den Gedenkort am Bornplatz, Hinweise in Museen und in der Literatur,  „aber wenige Orte, die darauf verweisen: Hier ist es gewesen... Und die nicht sehr zahlreichen erhaltenen Objekte müssen erhalten und gepflegt werden!“ – Ähnlich die Einschätzung von Prof. Miriam Rürup, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden an der Uni Hamburg. „Es gibt gerade in den letzten anderthalb Jahren eine Bewegung, jüdisches Leben erfahrbarer zu machen. Die 16 Friedhöfe werden wieder entdeckt, es gibt die Töchterschule als Bildungsstätte, über die Wiederbebung des Israelitischen Tempels an der Poolstraße wird geredet…aber es wird insgesamt erstaunlich wenig wahrgenommen.“

 

Einen Schwerpunkt des Abends bildete erwartungsgemäß die kontroverse Diskussion um den möglichen Wiederaufbau der Synagoge am Bornplatz, für den die Hamburgische Bürgerschaft im Februar eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben hat. Ergebnisse liegen noch nicht vor. Während Rabbiner Bistritzky den Plan befürwortet, wiederspricht Lior Oren und plädiert dafür, das „Loch“, das das zerstörte Gotteshaus hinterlassen hat, beizubehalten. Auch Miriam Rürup betont: „Es ist eine Lücke – aber zugleich ein Mahnmal!“ Sie fordert eine Neubelebung des Israelitischen Tempels, der von Reformern zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründet worden war. Dem pflichtet Anna von Villiez bei. Hamburg habe sich bei der Erhaltung und Pflege jüdischer Orte „nicht mit Ruhm bekleckert“. Auch die Verdienste jüdischer Bürger um den Aufbau des Hamburger Gesundheitswesens und des Stifterwesens würden nicht genug gewürdigt. Und Lior Oren wünscht sich ein jüdisches Museum für die Hansestadt. Rabbiner Bistritzky weist auch darauf hin, dass viele jüdische Zugewanderte weit von der Innenstadt entfernt, nämlich in Rahlstedt oder Jenfeld, wohnten, so dass auch dort an den Bau einer Synagoge gedacht werden sollte.

 

Zahlreiche Wortbeiträge kamen im Anschluss an die Podiumsrunde aus dem Publikum – Anregungen zu ganz unterschiedlichen Aspekten. Viele Fragen konnten in der über zweistündigen Debatte nur gestreift werden. Über eines jedoch waren sich alle im Saal einig: Das jüdische Hamburg muss sichtbarer, erlebbarer werden. (Cornelie Sonntag-Wolgast)

Podiumsgäste v.l n.r.: Rabbiner Shlomo Bistritzky / Prof. Dr. Miriam Rürup / Dr. Anna von Villiez / Siri Keil / Lior Oren

Fotos: Gerhard Lein, Lior Oren