Amateurmusik – Privatsache oder gesellschaftliche Aufgabe?
am Dienstag, 1. Februar 2022, um 19 Uhr
in der Kulturfabrik Kampnagel (Raum kmh), Jarrestraße 20 22303 Hamburg
Auf dem Podium:
Prof. Dr. Ulrike Liedtke (Präsidentin des Landtags Brandenburg, Vizepräsidentin des Deutschen Musikrats)
Dr. Carsten Brosda (Präses der Behörde für Kultur und Medien in Hamburg)
Ludger Vollmer (Präsident des Landesmusikrats Hamburg)
Moderation: Daniel Kaiser
Viele Menschen in Hamburg haben große Freude am Musizieren – in Amateurorchestern, Kammermusikgruppen, Chören, Bands, Ensembles jedweder Art. Und oft ist es weit mehr als die zuweilen belächelte
„Hausmusik“. Es gibt Auftritte in Clubs, bei Festen, Tagungen, kirchlichen Feiern, Benefizkonzerte und vieles mehr. Die Pandemie hat viele Gruppen zu starken Einschränkungen oder gar zum
Pausieren gezwungen – nicht nur sie selbst leiden darunter, sondern auch ihr Publikum. Was leistet Amateurmusik für das gesellschaftliche Miteinander? Oder ist sie ein Auslaufmodell? Und was
sollte von staatlicher Seite an Hilfe und Unterstützung beigetragen werden? In Zusammenarbeit mit Thomas Prisching (Geschäftsführer des Landesmusikrats Hamburg) laden wir zur
Diskussion.
Es wirken mit: Vertreter*innen der Musikgruppen:
Matthias Mensching (hamburgVOKAL),
Melanie Backes (Deutscher Harmonikaverband, Landesverband Hamburg),
Patricia Renz (Vorstandsvorsitzende Musica Altona e.V, Schulleiterin Luise-Schröder Schule.)
Kurze musikalische Darbietungen, soweit es die Corona-Abstandsregelungen zulassen, von hamburgVOKAL, Ltg. Matthias Mensching, der Saz Gruppe von Musica Altona e.V. mit Hüseyin Duman und einem Akkordeon-Quintett des Dt. Harmonikaverbandes LV HH e.V.
Es ist ein Artikel im Hamburger Abendblatt erschienen, 3.2.2022
Die Veranstaltung wurde von „Tide TV“ aufgezeichnet.
Fotos Gerhard Lein: Die Podiumsgäste mit Moderator Daniel Kaiser / Die Saz Gruppe von Musica Altona e.V. / Dr. Carsten Brosda / Ludger Vollmer / Prof. Dr. Ulrike Liedtke und Moderator Daniel Kaiser
Amateurmusik – Privatsache oder gesellschaftliche Aufgabe?
“Es geht heute um etwas - es geht um die Musik!" mit diesem enthusiastischen Ausruf des Moderators Daniel Kaiser (NDR 90,3) werden die Zuschauer im gut gefüllten Saal auf Kampnagel begrüßt. Ist Amateurmusik Privatvergnügen oder gesellschaftliche Aufgabe? Was leistet sie für das gesellschaftliche Miteinander? Und was sollte von staatlicher Seite an Hilfe und Unterstützung beigetragen werden?
Eingeleitet wird die Veranstaltung mit dem Erklingen eines mehrstimmigen Chorsatzes des Vokalensembles hamburgVOKAL. Sehen kann man die Sänger und Sängerinnen nicht, denn die Aufnahme wird coronabedingt vom Band abgespielt. Den Hörgenuss mindert das kaum. Viele Zuhörer haben die Augen geschlossen, manch‘ einer wippt mit Kopf oder Fuß zu den sphärischen Lobesklängen. Sind das nun Profis oder Amateure? Das Niveau, auf dem in Hamburg im Amateurbereich musiziert wird, ist hoch. So gibt das Ärzteorchester mehrmals im Jahr Konzerte, die gut besucht und deren Einnahmen für soziale oder medizinische Zwecke gespendet werden.
Orchester, Kammermusikgruppen, Chöre, Bands, unterschiedlichste Ensembles – das Spektrum ist breit. Doch die Pandemie hat die bunte Amateurmusik-Szene leiser werden lassen. Die rund 1200 Amateurchöre etwa erleben starke Einschränkungen oder wurden zum Pausieren gezwungen. Oft fehlt es an geeigneten Räumen, in denen mit 2,50 Abstand geprobt werden kann. Auch dass es keinerlei finanzielle Unterstützung beispielsweise für die Chorleiter gibt, erschwert das lustvolle Musizieren, erzählt Matthias Mensching.
Die wiederkehrende Frage des Abends ist, warum der Sport während der Pandemie anders als die Kultur behandelt wurde. Ist uns die körperliche Fitness wichtiger als die geistige Gesundheit, zu der Kultur ja zweifellos beiträgt? Was im Sport längst Standard ist, muss die Musik sich noch erkämpfen. Doch es gibt Teilerfolge, so wurde in Brandenburg in Zusammenarbeit mit dem Landessportbund (!) eine Übungsleiterpauschale für Chorleiter festgelegt, erzählt Ulrike Liedtke.
Es sei wichtig, in dieser Zeit Flächen aufrechtzuerhalten, betont Carsten Brosda. Derzeit entwickle man zusammen mit der Kreativgesellschaft ein Projekt, in dem man der Industrie Flächen zur temporären kulturellen Nutzung abnehmen wolle. Doch die Rendite sei häufig eben nicht ausreichend attraktiv. Kultur möglich machen, bleibt jedoch das Ziel! Bürgerschaftliches Engagement sei ein weiterer schöner Aspekt. “Nicht nur erduldet, sondern ausdrücklich erwünscht sei die Musik“, zitiert Liedtke die Alte Druckerei in Ottensen.
Mit einem Protest und einem Liebeslied auf der Saz – dem 2500 Jahre alten türkischen Instrument-, spürt das Publikum an diesem Abend am direktesten, warum Musik gesellschaftlich relevant ist. Auf die Frage, warum er Saz lerne, erwidert der junge Spieler: „Weil’s mir Spaß macht“, und entlockt den Besuchern der Podiumsdiskussion (vermutlich einige Musikanten darunter) heitere Lacher und zustimmendes Nicken. Der Klang des gitarrenähnlichen Instruments rührt und entführt dann gleichermaßen. Ein Hauch Fernweh streift durch den Raum.
Wie wichtig gemeinsame Begegnungen in der Musik und niedrigschwelliges Lernen sind, erfährt Patricia Renz täglich in der Musikschule in Altona. Den staatlichen Schulen fehle es an Personal und Zeit, um die Kinder an das Instrumentenspiel heranzuführen.
Doch was ist mit der gesellschaftlichen Relevanz? Ludger Vollmer, selbst Komponist, ist überzeugt, dass die Musik selbstverständlich einen enormen Wert hat. Insbesondere in der Handelsstadt Hamburg, die seit jeher von einer großen kulturellen Toleranz geprägt ist. So waren die ersten Projekte nach der starken Zuwanderungswelle musikalischer Art. Dort, wo gemeinsam musiziert wird, existiert kein Rassismus und Antisemitismus.
Aus dem Publikum kommen noch einige Wortmeldungen. Der Wunsch nach Pauschalsummen für Orchester, zur Noten- und Instrumentenbeschaffung und für den Dirigenten sowie nach Qualifizierungsangeboten für Amateurmusiker werden angesprochen. Carsten Brosda nickt zustimmend.
Dann hören wir zwei Musikstücke der besonderen Art: Ein Akkordeonquintett entlässt mit warmen Klängen und lässt auf einen beschwingten Frühling mit hoffentlich viel Musik von Amateuren und Profis gleichermaßen hoffen. (Franziska Herrmann)
Unter den Gästen der Veranstaltung des Kulturforums über die Amateurmusik in Hamburg war auch Prof. Wolfhagen Sobirey, prominenter Experte und Musikpädagoge, früherer Präsident des Landesmusikrats. In einem langen Leserbrief, eigentlich fürs Hamburger Abendblatt bestimmt, hat er sich zum Thema geäußert. Mit seinem Einverständnis veröffentlichen wir das Schreiben auf unserer Homepage.
Leserbrief zu: Amateurmusikszene macht auf sich aufmerksam, HA, 3.2.2022
Das Thema des Abends, „Amateurmusik – Privatsache oder gesellschaftliche Aufgabe?“, Kulturforum Hamburg, wurde eigentlich kaum behandelt, was aber nicht enttäuschte. Hamburg ist schon weiter. Die Kulturbehörde verhandelt bereits mit dem Landesmusikrat, wie die Situation der Amateurmusik verbessert werden kann, ist also bereit, gesellschaftliche Verantwortung zu praktizieren. Wir drücken uns die Daumen! Es ist längst nicht mehr überzeugend, dass nur die Berufsmusik staatlich mitfinanziert bzw. so erst ermöglicht wird und die Amateurmusik, die Freizeitmusik kaum. Mein Hobby, in die Oper zu gehen oder in die Elbphilharmonie, wird mir mit Millionenzahlungen vom Senat ermöglicht, mein anderes Hobby, das Singen und Musizieren im Musikverein, gilt als Privatsache. Die Musik, die in der Staatsoper oder im Konzerthaus gespielt wird, ist ein Highlight in der Stadt, ist kulturelle Identität und auf dem zu fordernden Niveau billig nicht zu haben. Ihre Finanzierung kritisiere ich nicht. Aber was bedeutet uns die Amateurmusik?
Hier gibt’s zweierlei zu haben, Musik erleben und Musik lernen. Die Auftritte der Musikvereine, der freien Ensembles, der Musikschulen usw. sind Musikerlebnisse für alle in der Stadt. Denn leider können sich nicht viele die Oper oder die Elbphilharmonie leisten oder haben bisher nicht erleben können, wie toll das da ist. Im Amateurbereich hat die gesamte Stadtbevölkerung Musik! Dazu soziales Leben. Was dort oft sogar eher entsteht als in der Oper.
Und Musik lernen im Amateurbereich? Der wirksamste Impuls, sich mit Musik zu beschäftigen, gar ein Instrument zu erlernen, kommt erfahrungsgemäß aus dem Elternhaus. Da die meisten Eltern heute eher nur Musik hören, ist der Musikunterricht der Schulen immer wichtiger geworden. Aber jeder weiß, dass der leider nicht immer stattfindet. Der Deutsche Musikrat hat z.B. gerade festgestellt, dass in Deutschlands Grundschulen 23.000 Musiklehrkräfte fehlen. Wenn Elternhaus und Schule es nicht bringen, kommt es auf den Amateurbereich an. Der kann retten. Er ist nämlich der Humus des gesamten Musiklebens. Alle Berufsmusiker haben davon profitiert. Aber seine Bildungsangebote, die Musikvereine, private Musikschulen, freien Lehrkräfte und freien Ensembles kosten auch, Raummiete, Leiterhonorare, Instrumente, Noten, Konzertsaalmiete, GEMA… Wie schlecht sie aufgestellt sind, hat die aktuelle Pandemie erschreckend deutlich gemacht! Doch sie gelten leider als „privat“, sind entsprechend unterfinanziert und strukturschwach. Auch beim Instrumentalunterricht entstehen Kosten für Unterrichtsräume, Instrumente, Versicherungen, Homepage, Schallisolierung, und da die Lehrkräfte das alles von ihren Schülern oder deren Eltern mitbezahlen lassen müssen, können die meisten sich das nicht leisten: „Wer hat, der spielt!“ Da sind die gelegentlichen Opern- oder Konzertbesuche des einzelnen in der Summe sogar billiger zu haben! Ist das Erlernen der Instrumente wirklich so viel weniger wichtig als das Lauschen im Konzertsaal? Sind das wirklich „Privat“- Lehrer“? Haben sie nicht auch eine gesamtgesellschaftliche, „öffentliche“ Bedeutung? Ich vergesse nicht, dass Hamburg auch eine vom Senat mitfinanzierte „Staatliche Jugendmusikschule“ hat. Sonderfall in Deutschland. Aber diese erreicht auch nur 1% der Bevölkerung. Respektieren wir doch endlich die kulturellen Bedürfnisse der gesamten Stadtbevölkerung! Es wird auch dem Zusammenhalt und der Atmosphäre in der Stadt nützen. Außerdem ist die Musik des Amateurbereichs viel preisgünstiger zu haben. Es braucht hier nicht zwei- oder dreistellige Millionenbeträge. Wenige Millionen können schon viel verbessern. (Wolfhagen Sobirey)
Artikel im Hamburger Abendblatt erschienen, 3.2.2022
Amateurmusikszene macht auf sich aufmerksam
Auf Kampnagel wurde über Probleme und Perspektiven diskutiert
Hamburg ist Musikstadt. Deren Einwohner nicht nur Musik hören , sondern vor allem machen : 240.000 aktiv musizierende Menschen tummeln sich in der Amateurmusikszene. Chöre, Bands, Orchester und weitere Musikliebende gehen ihrer Leidenschaft nach und bereichern die Kulturlandschaft. Einigen fehlt bisweilen die Sichtbarkeit und damit die Anerkennung der Bedeutung. Die Pandemie hat zudem viele Gruppen zum Pausieren gezwungen. Die Einschränkungen und Folgen sind für die Amateurmusiker und -musikerinnen teils gravierend.
Grund genug für Cornelie Sonntag-Wolgast, im Namen des Kulturforums Hamburg zur Podiumsdiskussion einzuladen. Schwerpunktthema auf Kampnagel: die Rolle der Amateurmusik innerhalb der Gesellschaft. Ludger Vollmer, Präsident des Landesmusikrats in Hamburg, beklagt eine fehlende grundsätzliche Wertschätzung: „Die Kraft für die Gesellschaft liegt zu sehr im Verborgenen.“ Auch Kultursenator Carsten Brosda (SPD) wünscht sich ein noch „stärkeres Bewusstsein für Kultur“, um mehr Präsenz in der Gesellschaft zu erreichen.
Matthias Mensching, Chorleiter von hamburgVOKAL, stimmt zu und kritisiert zugleich die fatale Raumknappheit in Hamburg. Obwohl die Amateurmusik ein „großes kulturelles Spektrum“ biete, seien die Probenbedingungen für viele Gruppen massiv erschwert.
„Das Problem der fehlenden Räume liegt vorrangig an der Dichte Hamburgs“, so Brosda, da ohnehin „immer weniger Raum zur Verfügung steht“.
Der bereits bestehende Pool von Orten müsse für kulturelle Nutzung „beibehalten und gestärkt werden“. Es brauche für die Immobilienwirtschaft positive Beispiele der Raumnutzung durch Musikgruppen, um ein größeres Angebot zu generieren. Ein Lösungsansatz könnte ein „digitaler Raumpool“ für Sport- und Musikgruppen in Hamburg sein, der laut Ludger Vollmer im Gespräch sei.
Nicht nur die Raumknappheit mache der Amateurmusikszene zu schaffen, betont Ulrike Liedtke, Präsidentin des Landtags Brandenburgs und Vizepräsidentin des deutschen Musikrats, auch der fehlende Nachwuchs und die schwindende musikalische Bildung seien ein Problem. Nur durch musizierenden Nachwuchs könne man eine interkulturelle Vielfalt voranbringen und Begegnung schaffen.
Die Frage nach staatlicher Förderung für den Bereich der Amateurmusik bleibt auch an diesem Abend nicht aus. Liedtke schlägt eine Basisförderung vor, und Brosda stimmt grundsätzlich zu – allerdings nicht ohne zu erwähnen, dass das Geld auch aufgrund von Corona knapp sei. Dennoch halte er eine institutionelle Förderung für sinnvoll, um flächendeckend unterstützen zu können. Applaus erntet Liedtke abschließend für ihre Worte: „Wir müssen jetzt wieder da sein, und wir müssen präsent sein.“ hpjp