„Aderlass am Baumwall – haben Zeitschriften eine Zukunft?“

am Montag, 17. April 2023 um 19 Uhr

in der Kulturfabrik Kampnagel, Jarrestraße 20, 22303 Hamburg

 

Zugegeben – das Angebot an Zeitschriften, die an Kiosken verfügbar sind, ist immer noch groß. Dennoch: Als vor ein paar Wochen Bertelsmann-Chef Rabe das abrupte Ende von 23 Magazinen des ehemals stolzen, inzwischen mit RTL fusionierten Hauses Gruner+Jahr verkündete, herrschte Entsetzen. 700 Stellen fallen weg, viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter packt die Sorge vor weiteren Hiobsbotschaften. Der – bislang – reiche Zeitschriften-Markt gehört zu den Markenzeichen des Medienstandortes Hamburg. Wie ist die gegenwärtige Lage? Und wie steht es um die Zukunft des Genres? Welche Wandlungen bringt die Digitalisierung mit sich? Wir laden ein zur Diskussion. 

 

Impuls:

Stefan Endter, Geschäftsführer DJV Nord

 

Auf dem Podium:

Verena Carl, Autorin und Journalistin

Dr. Leif Kramp, Forscher und Dozent am Bremer Zentrum für Medien, Kommunikation und

Information

Jana Schiedek, Staatsrätin der Behörde für Kultur und Medien

Prof. Dr. Christian Stöcker, Autor und Experte für Digitale Kommunikation an der HAW

Moderation: Christoph Twickel, Autor, Journalist (DIE ZEIT)

 

Hier finden Sie einen Mitschnitt der Veranstaltung

Fotos Florian Büh: Begrüßung durch die Kulturforumsvorsitzende/Jana Schiedek/Dr. Leif Kramp/Moderator Twickel/Verena Carl/ Stefan Endter

 

„Das Printgeschäft ist endlich, das zeigt die Entscheidung über massive Kürzungen bei dem mit RTL fusionierten Verlagshaus Gruner & Jahr“, so eröffnet Stefan Endter, Geschäftsführer des djv Nord (Deutscher Journalistenverband), den sehr gut besuchten Abend auf Kampnagel.

Zahlen-reich unterstreicht er: 700 Stellen wurden abgebaut, 23 Zeitschriftentitel fallen zukünftig weg. Dass unglaubliche 88 Millionen Boni an Vorstandsvorsitzende bezahlt wurden, verdeutlicht jedoch, dass Geld zur Querfinanzierung durchaus vorhanden ist. Erschüttertes Räuspern geht durch den Saal, in dem viele Menschen aus der Branche sitzen.

Es diskutieren auf dem von Christoph Twickel mit leichter Komik, die dem Ernst der Lage guttat,  moderierten Podium: Verena Carl, Autorin und Journalistin Dr. Leif Kramp, Forscher und Dozent am Bremer Zentrum für Medien, Kommunikation und Information, Jana Schiedek, Staatsrätin der Behörde für Kultur und Medien, Prof. Dr. Christian Stöcker, Autor und Experte für Digitale Kommunikation an der HAW.

„Das Gebäude mit den Bullaugen und der nachempfundenen Kommandobrücke in Hafennähe wurde mein persönliches Traumschiff, denn es stand für besondere Geschichten, die Menschen hinter den Zahlen finden, den außergewöhnlichen Dreh und eine originelle Form“, so schrieb es die Journalistin Verena Carl vor einigen Wochen in einem bewegenden Artikel im Hamburger Abendblatt. Viele Jahre arbeitete sie für unterschiedliche Titel als freie Autorin bei Gruner & Jahr. Doch „die Signale waren keine Überraschung und deutlich sichtbar.“ Und:  „In den 700 gekündigten Stellen sind die Teilzeitstellen noch nicht einberechnet. Die Enttäuschung und die Unsicherheit lassen viele Journalisten und Journalistinnen dem Beruf den Rücken kehren“.

 

Prof. Dr. Christian Stöcker thematisiert, wie er jahrelang in seinen Kolumnen die Verlagslandschaft beschimpft habe, dass sie das Internet nicht verstehen und zu spät auf online umgeschaltet haben „Wie kann man eine Marke wie stern.de durch so viele Strategiewechsel derart gegen die Wand fahren?“, fragt er. „Die Verachtung von Online-Journalisten gehörte an vielen Medienhäusern zur Unternehmenskultur .“ Ob Magazine wie das Fleisch- und Grillmagazin „Beef“ die Demokratie retten? Die Frage steht plötzlich provokant im Raum, ebenso wie die Bemerkung, dass Journalismus heute (zu) weit gefasst werde. Es kommt noch einmal Schwung in die Diskussion. Jana Schiedeck interveniert: „Unterhaltung zerstreut nicht nur, sondern hilft auch bei der Meinungsfindung“. Dass Zeitschriften künftig als Kulturgut staatlich gefördert werden könnten, lehnt sie ab: „Das gefährdet die Unabhängigkeit“.

Carl hebt heraus, dass es schade ist, wenn Familienmagazine als ‚Gedöns‘ hängen bleiben. So war es doch das Magazin „Eltern“, das zuerst von Regenbogenfamilien berichtet hat oder eine Muslima aufs Titelbild setzte.

Dr. Leif Kram fragt, wie ein Publikumserfolg überhaupt bewertet werden darf und plädiert für freie Entwicklungsredaktionen als Zukunftsmodell. „Zu feste Strukturen ersticken das Ausprobieren leider im Keim“, bestätigt Carl. „Es wird zunehmend von Textern erwartet, dass sie auch noch Videos und Fotos mitliefern sollen, und das am besten noch unentgeltlich“. Der Abend zeigt unterschiedliche Sichtweisen. Die Stimmen aus dem Publikum unterstreichen den Verlust am Baumwall. Bleibt die Frage, was der Zeitschriftenlandschaft fehlt. „Jemand, der das große Angebot kuratiert“, heißt es. Das erscheint einleuchtend, denn der Tag hat nur 24 Stunden, und die Durchforstung des Medienangebots fällt trotz des Kahlschlags am Baumwall, den das Publikum erst langsam schmerzlich spüren wird, immer schwerer. (Franziska Herrmann)

Fotos Florian Bueh: Christian Stöcker / Podiumsgäste